Das Beste aus zwei Welten – Am Speicherbogen 

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Umweltfreundlich – wohngesund – generationsübergreifend: So lautet das Credo des Wohnprojektes Am Speicherbogen im niedersächsischen Lüneburg. 32 Erwachsene und 15 Kinder leben hier unter zwei baubiologischen Dächern.

Die Gründungsmitglieder des “Speicherbogens” wollten gemeinsam wohnen. Ü50er, deren Kinder aus dem Haus sind, denken bereits daran, dass sie im Alter nicht allein sein möchten. Junge Familien wünschen sich Anschluss, denn Eltern und Großeltern wohnen nicht immer in der Nähe. Menschen mit Behinderungen hoffen auf Unterstützung im Alltag und sind gerne bereit, dafür an anderer Stelle etwas zurückzugeben. So wie es früher in einer Dorfgemeinschaft üblich war. „Wir verstehen uns als ein urbanes Dorf. Wir kombinieren das Beste aus beiden Welten“, sagt Ulrich Adolphi, einer der Mitbegründer. Die moderne Infrastruktur wolle man nicht missen. Der Bahnhof liegt gut einen Kilometer, die Innenstadt eineinhalb Kilometer entfernt.

Gesellschaft bürgerlichen Rechts als Bauträger 

Als Projektentwickler Volker Holtermann (plan W) 2015 den Zuschlag für das Grundstück bekam, hatte er in Lüneburg bereits das Wohnprojekt LeNa (Lebendige Nachbarschaft) realisiert und eine kleine Gruppe von Interessierten für ein weiteres Wohnprojekt zusammen. Gemeinsam mit den Architekt*innen Maike Möhring und Stephan Seeger (arch.tekton) machte er sich an die Planung. Im Gegensatz zu vielen ähnlichen Projekten wurde hier keine Genossenschaft gegründet, sondern eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), die als Bauträger fungierte. Alle Wohnungen sind Eigentumswohnungen, die Parteien bilden eine Wohnungseigentümergemeinschaft (WEG). Die ersten Mitglieder waren sich schnell über die grundsätzliche Ausrichtung des Projektes einig: eine umweltfreundliche, wohngesunde und baubiologische Bauweise und gemeinschaftliches, generationenübergreifendes Wohnen. „Der Eigentumsgedanke sorgt für eine gewisse Homogenität innerhalb der Gruppe“, erläutert Gründungsmitglied Gerhard Cassens. Durch das Eigentum entstehe eine emotionale Bindung zum Objekt. Der Gedanke, die Wohnung weiterzuvererben, spielte gerade für die älteren Bewohner*innen eine Rolle.

Gemeinschaftliches Miteinander

Angestrebt wurde ein nachbarschaftliches und gemeinschaftliches Miteinander ohne Wohngemeinschafts-Charakter, eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz. „Man trifft sich zwangsläufig, aber zwanglos“, bringt es Ulrich Adolphi auf den Punkt. Dazu trägt nicht zuletzt die Anordnung der Wohnanlage bei: Zwei Gebäude mit jeweils zwei Etagen zuzüglich Staffelgeschoss gruppieren sich um einen begrünten Innenhof. An die beiden Hauptgebäude schließt sich jeweils ein Reihenhaus-Komplex an. Die 19 Wohneinheiten haben eine Größe zwischen 70 und 180 Quadratmetern. Zentraler Punkt ist der 70 Quadratmeter große Gemeinschaftsraum.

Baubiologisches Stroh

Als klar war, dass Baubiologie bei dem Projekt eine wesentliche Rolle spielen würde, kam Architekt Dirk Scharmer (deltagrün) ins Spiel. Scharmer gilt als der „Strohpapst“ in Deutschland und hat bereits zahlreiche Objekte in der Bauweise mit Holz, Stroh und Lehm realisiert. Die geschwungenen Fronten folgen einer alten Bahnlinie, die einst durch das Quartier verlief. Das heutige Wohn- und Gewerbegebiet „Speicherquartier“ zeugt von den Wurzeln Lüneburgs als Garnisonsstadt. Zwei stattliche Speicherhäuser aus dem Jahre 1936, die von 2010 bis 2013 saniert und zu Wohnhäusern umgebaut wurden, sowie die benachbarte „KulturBäckerei“ in den Räumen der ehemaligen Heeresbäckerei, bilden das Herzstück des Quartiers. In der Nachbarschaft sind im Laufe der Jahre zahlreiche weitere Neubauten entstanden. Der Speicherbogen sticht optisch aus den rechteckig gebauten Objekten des Umfeldes hervor.

1 Die Baugemeinschaft traf sich während der Planungs- und Bauphase regelmäßig zum intensiven Austauschen
2 Der Eingang in den Innenhof befindet sich zwischen den beiden Hauptgebäuden
3 An die beiden Hauptgebäude schließt sich jeweils ein Reihenhaus-Komplex an. Gemeinsam umfassen sie den Innenhof
4 Auch für Sommerfeste und Aufführungen ist der Innenhof perfekt geeignet

Gruppenbildung

Nicht nur optisch ist hier alles ein bisschen anders. Damit das Miteinander funktioniert, wurden potenzielle WEG-Mitglieder auf Herz und Nieren geprüft. Über einen Zeitraum von zwei Jahren traf sich die Baugemeinschaft regelmäßig zu zwei Themenbereichen: montags standen Bauthemen auf der Tagesordnung, bei den Sonntagstreffen ging es ums Kennenlernen. Der Gruppe war es wichtig, Lebenssituationen und Vorstellungen von Gemeinschaft intensiv zu besprechen. Dabei kamen auch Fragen auf den Tisch wie: Wie war der Umgang mit Geld in deiner Ursprungsfamilie? „Wenn ich die Geschichte des anderen kenne, kann ich bestimmte Verhaltensweisen ganz anders einordnen“, erläutert Gerhard Cassens. Dass solche Treffen nicht immer konfliktfrei ablaufen, liegt auf der Hand. Das Team von plan W unterstützte in der Anfangsphase durch Moderation. Auch heute noch finden Kommunikationstreffen alle zwei Monate und Orga-Treffen alle drei bis vier Wochen statt. Alles andere wird in einer Messenger-Gruppe geklärt.

Neue Mitglieder stießen auf unterschiedlichen Wegen zur Gruppe. Thomas Eyck entdeckte das Angebot in einer Kleinanzeige. Für die Familie, die ein schwerbehindertes Kind hat, war es ein Glücksgriff. „Wir haben hier sofort Anschluss gefunden“, schwärmt er. Christine Schulke-Oey wohnte mit ihrer Familie bereits in der Nachbarschaft und erfuhr so von dem Projekt. Für sie war sofort klar, dass es genau das war, was sie wollte. Die junge Familie, die noch im Wachstum begriffen war, brauchte dringend Platz und hatte den Wunsch nach mehr Gemeinschaft. Ihr Wunsch ging in Erfüllung: „Gerhard Cassens ist für meine Kinder mittlerweile der dritte Opa“. Dass ältere Bewohner*innen spontan mal die Kinder aus der Schule oder Kita abholen, wenn die Eltern keine Zeit haben, ist hier eine Selbstverständlichkeit. Überhaupt wird das Alltagsleben gemeinschaftlich organisiert, aber nicht formalisiert. Die Reinigung der kollektiv genutzten Räume und Flächen sowie der Winterdienst erfolgen reihum. Nach dem Motto „Jede/r wie er/sie kann“ sind ältere Bewohner*innen (die Älteste ist derzeit 82) und Menschen mit Behinderungen davon ausgeschlossen. Als Ausgleich bringen diese sich an anderer Stelle ein, beispielsweise in der Betreuung von Kindern. Das funktioniert seit drei Jahren bestens.

5 Der Eingang zu den Gebäuden erfolgt über den Innenhof. Einige Erdgeschosswohnungen schirmen Hochbeete ab
6 Im Eingangsbereich gibt es Fahrradbügel für Besucher*innen
7 Die Bewohner:innen können ihre Fahrräder in einem Unterstand parken. Das Dach wurde mit einem Preisgeld nachträglich begrünt
8 Ein Platz an der Sonne: Die Wohnung im 2. Stock mit Süd-West-Ausrichtung und großzügiger Dachterrasse
9 Bei den von der VHS initiierten Küchengesprächen im Gemeinschaftsraum hatten Interessierte die Möglichkeit, sich über das Wohnprojekt zu informieren
10 Im Gemeinschaftsraum zeigt ein Bullauge das Innere der Wand, hier mit Ute Platz-Cassens und Gerhard Cassens, Gründungsmitglieder des Projektes

Grüne Auszeichnungen 

Für den Bau wurden ausschließlich regionale Handwerker verpflichtet, die Materialien entsprechen höchsten ökologischen Standards. „Mehr geht nicht“, sagt Architekt Stephan Seeger. Drei Preise hat das Objekt gewonnen: Die „grüne Hausnummer“ wird von der Klimaschutz- und Energieagentur Niedersachen für besonders energieeffiziente Wohngebäude vergeben. Darüber hinaus gab es den niedersächsischen Landespreis als „Zukunftspreis“ sowie den HolzbauPlus Sonderpreis für strohgedämmte Gebäude. Über die Verwendung der Preisgelder wurde gemeinschaftlich entschieden. So bekam der Fahrradschuppen ein Gründach und die Sandkiste eine Abdeckung.
Trotz der verkehrsgünstigen Lage haben die meisten ihre Autos behalten. Doch diese werden auch gerne einmal innerhalb der Gemeinschaft geteilt. Ein Biosupermarkt liegt fußläufig. Einige Parteien beziehen Obst, Gemüse und Milchprodukte von einem Biohof aus der Region. Selbst angebaut wird nur wenig: Der Innenhof dient in erster Linie zum Spielen und als Treffpunkt. Einzelne Erdgeschosswohnungen haben Gemüse im Hochbeet, darüber hinaus gibt es Beerensträucher und ein paar Obstbäume.

11 Die einzelnen Wohnungen sind individuell ausgebaut und farbig gestaltet
12 Die Wohnungen in den Reihenhäusern, die sich an die beiden Hauptgebäude anschließen, sind etwas größer und daher gut für Familien geeignet

Aktiv im Umfeld

Die Wohngemeinschaft engagiert sich aktiv im Umfeld und sucht die Nähe zur Nachbarschaft. Beim begehbaren Adventskalender der Kirchengemeinde war der Speicherbogen in diesem Jahr die erste Station. In Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Lüneburg fanden im Herbst die sogenannten Küchengespräche statt. Hier konnten Interessierte zwanglos mit Bewohner*innen ins Gespräch kommen zu den Themen „Bauen mit Holz, Stroh und Lehm“, „Generationenübergreifend Wohnen“ und „Solidarität im Alltag“. Auch Mieter*innen aus der Nachbarschaft nutzen die Gelegenheit zum Kennenlernen. Sie bestätigen, dass in anderen, gerade größeren Wohnanlagen eine allgemeine Anonymität vorherrscht. „Der zunehmenden Vereinzelung in der Gesellschaft wollten wir bewusst etwas entgegensetzen“, betont Gerhard Cassens.

Baudaten

WohnProjekt Am Speicherbogen, Elisabeth-Maske-Straße 2 – 10, 21337 Lüneburg

BauherrschaftAm Speicherbogen GbR
PlanungVolker Holtermann, PlanW GmbH
ArchitektenStephan Seeger, Maike Möhring, arch.tekton GmbH; Dirk Scharmer, deltagrün Architektur GmbH
Fertigstellung2019
Bruttogrundfläche BGF 3.466 m2
Wohnfläche2.225 m2


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Quellenangaben und/oder Fußnoten:

Titelbild: privat, Baugemeinschaft
Bild 1,4,5: privat, Baugemeinschaft
Bild 2: Kean, Stefan Koch
Bild 6,7,8,9,10,12: Ruth Heume
Bild 3: Cora Blau
Bild 11: Ulrich Adolphi

 

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