Große Städte und die Baubiologie

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Plädoyer für zukunftsfähige Konzepte: Seit 1950 hat sich die städtische Bevölkerung mehr als vervierfacht. Und die Zahl der Menschen in den Städten nimmt weiterhin zu. Die einen locken Arbeitsplätze, städtische Freiheit und urbane Kultur, die anderen treiben Aussichtslosigkeit und Armut in die Städte. So sinnvoll ein gutes Miteinander von Stadt und Land wäre, die Verstädterung lässt sich nicht von heute auf morgen stoppen. Damit dieser epochale Wandel gelingt, ist es wichtig, die Städte nach baubiologischen Kriterien zu gestalten.

Weil große Städte in vielen Details nicht den Kriterien der Baubiologie für ein menschenwürdiges, gesundes, nachhaltiges und damit auch soziales Bauen und Wohnen entsprechen, werden wir im Institut für Baubiologie + Nachhaltigkeit IBN häufig aufgefordert, uns intensiv gegen den Trend der Verstädterung zu stemmen, ja sogar zur Stadtflucht aufzufordern. Eine solche Haltung wäre aus unserer Sicht realitätsfern und würde mehr Schaden als Nutzen anrichten, zumal mittlerweile weltweit über die Hälfte und in Europa gar Dreiviertel der Menschen in Städten leben. Diese Menschen würde man frustrieren und brüskieren, anstatt sie für die Umsetzung baubiologischer Kriterien zu motivieren. Ziel sollte es sein, sowohl auf dem Land, als auch in der Stadt nachhaltige, also zukunftsfähige und lebenswerte Strukturen zu schaffen. Mit den folgenden Vorschlägen möchten wir aufzeigen, was man auch in großen Städten Schritt für Schritt tun kann, um ihre Nachteile zu verringern und ihre Vorteile zu mehren:

  • Aufteilung von Großstädten in weitgehend autarke Stadt – viertel, kompakt, mit menschengerechten Dimensionen, selbstversorgende, selbstverantwortliche, überschaubare und naturnahe Lebensgemeinschaften.
  • Kleinteiligere Gebäude ohne Gigantismus.
  • Mehr Grün und Lebensmittel-Nahversorgung durch Dachgärten, Fassadenbegrünung, urban gardening, Rückbau von Straßen, Schrebergärten, Gärtnereien, Obst- und Nussbäume etc.
  • Kindgerechte und naturnahe Umgebung mit Möglichkeiten der Mitgestaltung.
  • Unterstützung partizipativer Wohnungsbaumodelle wie Baugenossenschaften und Baugemeinschaften, die nicht am maximalen, finanziellen Gewinn von Investoren orientiert sind.
  • Mehr variable, gemischt nutzbare Modelle (Familien, Alte, Singles, soziale Randgruppen, Behinderte) auch bezüglich Wohnen und Arbeiten vor Ort. Hierzu ist auch die Politik gefordert, um Arbeitsplätze großer Firmen gleichmäßiger zu verteilen.
  • Reduzierung des Verkehrs durch attraktivere öffentliche Verkehrsmittel, Ausbau von Radwegen, Carsharing u. v. m.
  • Nahversorgung mit erneuerbarer Energie, staatliche Unterstützung bei der Einrichtung kleinmaßstäblicher, dezentraler Energiespeicher.
  • Bauen und Sanieren nach baubiologischen Kriterien.
  • Vermeidung von Abfall bzw. Verwendung von Produkten, die sich wiederverwenden oder vor Ort kompostieren lassen.
  • Regenwasserversickerung und -bewirtschaftung sowie Abwasserreinigung mit Pflanzenkläranlagen vor Ort …

Bis aus einer „normalen“ Stadt eine „StadtLandschaft“ im ökosozialen Sinne geworden ist, braucht es Zeit und Geduld, Know-how und einen langfristigen Masterplan.

1 + 2 Wenn zwei sich streiten, liegt die Wahrheit oft in der Mitte. Zwischen Dorfidyll und Hochhaus-City gibt es gut funktionierende Konzepte mit hoher Siedlungsdichte und dennoch genügend Platz für Natur, Nahversorgung und erneuerbare Energien vor Ort.

Nachteile großer Städte

  • Entfremdung von der Natur, dies trägt zur weiteren Naturzerstörung bei.
  • Zu dichtes Bauen steigert das Aggressionspotenzial unter den Bewohnern.
  • In zu großen, unüberschaubaren Lebensräumen fehlen oft soziale Kontakte. Zunehmende Verwahrlosung, Obdachlosigkeit, Kriminalität und eine höhere Selbstmordrate sind oft die Folge.
  • Wohnumfeld nicht familien-, kind- und altengerecht.
  • Luftverschmutzung, Gestank und Lärm – auch in der Peripherie großer Städte.
  • Stadtklima mit höheren Temperaturen als im Umland.
  • Hohes Verkehrsaufkommen, auch zur Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln und Konsumgütern, Baumaterial usw.
  • Große Energie-, Müll- und Abwassermengen.

Vorteile großer Städte

  • Städte können besser Einrichtungen anbieten wie Schulen, Hochschulen, Einkaufsmöglichkeiten, Krankenhäuser, Theater, Hotels, Sportstätten u. v. m.
  • Städte bieten mehr Freiheit und durch ihr multikulturelles Umfeld den Menschen Schutz, die nicht der Norm entsprechen, flüchten mussten, eine andere Religion oder auch nur eine andere Meinung haben.
  • Durch kompaktere Bauweisen weniger Landschaftsverbrauch sowie energetisch und ökonomisch günstiger.

Etwas Statistik

  • Anteil der Stadtbevölkerung weltweit: 1960 ca. 33 % / 2018 ca. 55 % (rund 1 Milliarde Menschen in Städten leben in unwürdigen Verhältnissen, z. B. in Slums)
  • Anteil der Stadtbevölkerung in Deutschland: 1960 ca. 71 % / 2020 ca. 77,5 %
  • Weltweit gibt es 2020 rund 40 Metropolregionen mit jeweils mehr als 10 Mio. Einwohner.
  • 1910 gab es weltweit 12 Städte mit mehr als 1 Mio. Einwohner, 2020 gab es rund 500 Städte mit mehr als 1 Mio. Einwohner.

Autoren

  • Winfried Schneider, Architekt und Leiter des IBN
  • Christoph Bijok, Architekt, Baubiologe IBN, Fachjournalist und Referent zum Thema Städtebau
  • Achim Pilz, Architekt, Fachjournalist, Baubiologe IBN, Chefredakteur baubiologie magazin

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1 Kommentar

  1. Ein wertvoller Beitrag, der meinen Bestrebungen seit etwa 1995 sehr nahe kommt.
    PS.

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Grafiken: Christoph Bijok

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